"Der Mainstream-Islam, der sich heute im arabischen Fernsehen und Internet präsentiert, hat [...] eine besondere Charakteristik: er hat eine moralische Botschaft, ist aber nicht vordergründig politisch und wird damit geduldet von den autoritären Regimes, die in populär-religiösen Formaten zumeist keine Bedrohung sehen, sondern glauben, die Hinwendung zur Religion vielleicht noch für die eigene Legitimierung nutzen zu können. Er ist alltagskompatibel, aber wertkonservativ, weil er durch transnationale SAT-Produzenten für ein breites Publikum in einer Vielzahl von arabischen Ländern konzipiert ist, ohne dabei Anstoß bei religiösen und politischen Autoritäten erregen zu wollen. Er ist äußerlich fragmentiert, bietet aber dennoch die Möglichkeit der (virtuellen) Vergemeinschaftung und erfüllt damit die Ansprüche von post-modernen Gesellschaften, deren Elemente auf unterschiedliche Weise nach Führung, Sinn und Halt suchen und deren Identität sich in einer globalisierten Moderne über den Islam scheinbar aufwerten lässt. Optimistisch kann man also zusammenfassend von einer Pluralisierung des religiösen Diskurses durch die Medialisierung sprechen sowie von einer verstärkten Alltagsbezogenheit des Islams. Den staatlichen Eliten und den strategisch an sie gebundenen orthodoxen islamischen Einrichtungen und Strömungen wurde mit den religiösen Formaten in den neuen Medien das Monopol der Verbreitung religiöser Wahrheiten prinzipiell entzogen. Aus einer eher pessimistischer Sichtweise lässt sich aber auch feststellen, dass durch die Medialisierung des Islams eine neue Orthodoxie Einzug hält. Denn auch in den ambitionierteren Formaten von Amr Khaled und Yusuf al-Qaradawi geht es nicht um eine Auseinandersetzung über religiöse Streitfragen oder die Gegenüberstellung verschiedener Positionen im Islam, sondern es wird eine individualisierte spirituelle Führung angeboten und von den Rezipienten auch gesucht, die kritisches Denken zugunsten von wertkonservativen Vorgaben vernachlässigt." (Seite 122-123)