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#meinung #macht #digital #plattformkapitalismus

ila, issue 426 (2019), pp. 4-40

Signature commbox: 200:70-Politics 2019

"WhatsApp und Facebook werden auch in Lateinamerika massiv genutzt, vor allem aufgrund ihres vermeintlich kostenlosen Charakters. Auch dort wird das Problem der rechten Meinungsmache und der Fake News diskutiert, denn die Tatsache, dass sich die Leute heute vor allem über Werbeplattformen informieren, die unzutreffend „soziale Medien“ genannt werden, hat handfeste politische Auswirkungen. In Brasilien und El Salvador wurden die jüngsten Wahlen nicht über Präsenz und Debatten in den traditionellen Medien gewonnen, sondern über gut vorbereitete und teure WhatsApp-Kampagnen. In Brasilien siegt so der Rechtsextremist Jair Bolsonaro, in El Salvador der politische Wende-hals und PR-Profi Nayib Bukele. Die brasilianischen WhatsApp-Nutzer*innen wurden während des Wahlkampfs mit gefälschtem, häufig explizit sexuellem Inhalt geflutet, wie etwa der Meldung, dass die Arbeiterpartei plane, Babyfläschchen mit Nuckel in Penisform zu verteilen, um die Homosexualisierung der Kleinkinder voranzutreiben.
Haarsträubendes postfaktisches Zeitalter – warum fallen Fake News auf fruchtbaren Boden? Klar ist: Klassische Medien haben ihre Funktion als „Gatekeeper“, als Instanzen, die sortieren und filtern, längst eingebüßt. Die Gesellschaften werden vielfältiger und unübersichtlicher: mehr Pluralität auf der einen Seite, andererseits immer tiefere Gräben, die sich durch die Gesellschaften ziehen. Die mediale Öffentlichkeit und die Zugangsbedingungen zu ihr wandeln sich. Die Menschen misstrauen „denen da oben“ durchaus zu Recht. Aber die kommerziellen Global Tech Player beherrschen die Räume für Kommunikation, Information und Meinungsbildung mit Algorithmen. Das hat Folgen. Das Geschäftsmodell basiert auf Datenschürfen, kombiniert mit persönlich zugeschnittener Werbung. Du bekommst das, was du sehen und hören willst, nicht was wahr ist und den Tatsachen entspricht. Und davon profitieren vor allem rechtspopulistische Akteure.
Gibt es dazu einen funktionierenden linken Gegenentwurf? Wir, die Macher*innen der ila und ähnlich Gesinnte, wollten eigentlich schon immer zur Bildung einer Gegenöffentlichkeit beitragen, positionierten uns gegen den „bürgerlichen Journalismus als Stellvertreterjournalismus“, wollten „Betroffenenberichterstattung“. Heute haben Rechte und Rechtsextreme den Begriff „Gegenöffentlichkeit“ für sich gekapert. Und jetzt haben wir den Salat.
Aktuell existiert eine Öffentlichkeit jenseits der Dichotomie „staatlich geregelt oder privat“. Wir haben kein Problem mehr damit, unsere eigenen Inhalte zu verbreiten und eigene Medien zu schaffen. Das stellt allerdings noch längst nicht sicher, dass wir auch gehört werden. Der springende Punkt ist nicht mehr der Zugang, sondern die Reichweite. Wir konkurrieren mit allen anderen Anbietern von welcher Information auch immer um Aufmerksamkeit. Und dabei verfügen wir, kaum anders als früher, immer noch über die schwächeren Möglichkeiten.
Wie sieht also das Überleben im „Plattformkapitalismus“ aus, wie sich darin bewegen, schützen, informieren, seine Meinung bilden und als politisch Aktive oder alternative Medienschaffende die eigenen Inhalte verbreiten? Dazu ein paar Ideen, die sich aus der Auseinandersetzung mit dem Thema und lateinamerikanischen Gesprächspartner*innen herauskristallisieren: Versteht, die Technik zu verstehen (in Lateinamerika ist die Rede von hackear la tecnología, also die Technologie für die eigenen Zwecke zu nutzen wissen), wahrt eine kritische Distanz, haltet eure Informationsquellen vielfältig (was vor allem auch Kindern und Jugendlichen vermittelt werden sollte), schafft und nutzt alternative Plattformen. Manchmal kann auch digitales Fasten das Gebot der Stunde sein. Handy aus und raus auf die Straße – oder in den Wald." (Editorial)
Eine andere Öffentlichkeit ist möglich? Vom Strukturwandel in digitalen Zeiten / Werner Rätz, 4
Gegenöffentlichkeit oder dritte Säule? Über Anspruch und Wirklichkeit eines Konzepts am Beispiel der freien Radios / Lukas Holfeld, 8
Politik im Netz, Netze in der Politik: Die Twitter-Kampagne #VivirSinMiedo in Uruguay / Santiago Escuder Rodríguez, 10
Politische Manipulation durch Bots aufspüren: Interview mit der Sozialwissenschaftlerin Samantha Bradshaw vom "Computational Propaganda Project" Oxford / Craig Cannon, 14
In fast allen Fake News im Wahlkampf ging es um Sexualität: Interview mit dem brasilianischen Sozialaktivisten und ehemaligen Abgeordneten Jean Wyllys / Gaby Küppers, 17
Vom Netzwerk der Aktivist*innen zu den Cyborgs der Multituden. Rezension: Guiomar Rovira zur Entwicklung der sozialen Bewegungen in Zeiten des Internets / Alix Arnold, 20
Digitale Demagogie. Rezension: Christian Fuchs ergründet den autoritären Kapitalismus in Zeiten von Trump und Twitter / Lars Weiss, 23
Keine Angst vor dem Journalismus, Herr Präsident! El Salvador: Nayib Bukele und sein spezieller Umgang mit der Öffentlichkeit, 24
Ein Troll mit Regierungseinfluss: Olavo de Carvalho, Guru der Rechten in Brasilien, hetzt vor allem im Netz / Wolfgang Meier, 27
Zwischen Handy und Straße: Zum Wandel politischer Protestformen in Bolivien / Peter Strack, 28
Beschimpfungen statt Debatte: Interview mit dem bolivianischen Medienexperten Samuel Alcácer / Peter Strack, 30
Der Drogenkrieg bei YouTube: Soziale Medien sind im Drogenkrieg oft die einzige Möglichkeit zu berichten. Das wissen auch die Kartelle [Mexico] / Lars Weiss, 32
Aktivismus auf Google? Interview mit der uruguayischen Feministin Helena Suárez Val / Luciana Musello, 35
Sie haben einen Namen: Informationen zu ermordeten Frauen in Mexiko auf Internetkarten / Mirjana Jandik, 37
Füttere nicht den Troll: Die digitale Ausstellung "Estamos conectadas" bringt Netzfeministinnen aus Mexiko und Deutschland zusammen / Britt Weyde, 38